Horw im Kontext mit dem internationalen und nationalen Geschehen

Horw entwickelt sich in atemberaubendem Tempo von einem Bauerndorf zu einer städtisch geprägten Agglomerationsgemeinde. Sichtbar wird diese Entwicklung in den Nachkriegsjahrzehnten und sie hat sich in den vergangenen Jahren beschleunigt. Sie spielt sich vor einem tiefgreifenden gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Wandel ab. Die Beispiele an Geschichten und Ereignissen in diesem Buch machen dies deutlich. Verstehen lassen sich solche Beispiele oft auch mit Blick auf nationale und internationale Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte, in die sie eingebettet sind.

Die Zeit der Boomjahre: 1946 bis 1973

Die Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg zeichnen sich durch ein in der Schweizer Industriegeschichte einmaliges Wachstum aus. Die Entwicklung vollzieht sich im gesamten Westeuropa und auch in Nordamerika und gilt unter Historikerinnen und Historikern als Zeit des «Golden Age» (Goldenes Zeitalter). Bedeutende Entwicklungen finden statt, die bis in unsere Tage nachwirken. Aufgrund des steigenden materiellen Lebensstandards stellen die 1950er-Jahre den Beginn des Massenkonsums dar. Der «Kunde König» kurbelte mit seinem Kaufverhalten den Konsum kräftig an. Es sind vor allem Haushaltsgüter und Apparate und im Verlauf der 1960er-Jahre das Auto, die den Wirtschaftsmotor antreiben. Geprägt ist diese Phase durch ein Bevölkerungswachstum. Nach dem Krieg steigt die Geburtenrate markant an (Babyboomer-Jahrgänge 1946 – 1964) und die Arbeitsmigration in die Schweiz nimmt zu. Die Wirtschaft im Aufschwung greift massiv auf ausländische (vorwiegend männliche, häufig saisonale) Arbeitskräfte zurück. 1960 lebt bereits mehr als die Hälfte der Luzerner Kantonsbevölkerung in der Stadt und den umliegenden Agglomerationsgemeinden. Die automobile Revolutionierung des Verkehrs macht dies überhaupt möglich und schafft so die Grundlagen für die Trennung von Arbeit und Wohnen. Die zunehmenden Telefonanschlüsse vereinfachen die Kommunikation über Distanzen. Die gesteigerte Mobilität führt aber auch zu einer Lockerung lokaler Bindungen. 1968 erreicht Horw die Marke von 10 000 Einwohnern und erlangt damit Stadtgrösse. Auch vollzieht sich eine tiefgreifende Veränderung in Aufbau und Zusammensetzung der Einwohnerschaft.

Deutlich sichtbar wird dies an der Siedlungsstruktur und der verkehrsmässigen Durchdringung. In diesem Zusammenhang ist das erste Autobahnteilstück der Schweiz von 1955, das durch Horw führt, zu erwähnen. Kurz danach (1958) wird der Ausbau des Nationalstrassennetzes in der Bundesverfassung verankert. Die eigentliche Umsetzung erfolgt ab den 1970er-Jahren.

Die gesellschaftspolitische Grosswetterlage der Nachkriegsjahrzehnte ist durch den Kalten Krieg geprägt. Dieser ist in erster Linie eine ideologische Auseinandersetzung um das richtige wirtschaftliche und politische Gesellschaftssystem – hier Kapitalismus und dort Kommunismus. Eng damit verbunden sind Bedrohungsängste und Feindbilder. Die Schweiz gibt sich auch als recht geschlossene Gemeinschaft, in der sich Konsensdemokratie leichter umsetzen lässt (Etablierung der Zauberformel 1959, auch im Kanton Luzern). Gleichwohl ist es eine Zeit, in der sich die Schweiz ökonomisch und auch politisch als Kleinstaat auf der Weltbühne gut positionieren kann. Die Zeit ist von Fortschrittsoptimismus geprägt, und vieles scheint technisch machbar zu sein.

Kultureller Wandel – Krisen und Proteste: 1973 bis 1990

Die Zeit, die vom Nachkriegsboom zur Ölkrise (1973) reicht, wird an ihrem Ende von heftigen gesellschaftlichen Umwälzungsprozessen erfasst. Auf die Erdölkrise (durch den Lieferboykott arabischer Erdölförderstaaten) folgt eine Weltwirtschaftskrise Mitte der 1970er-Jahre, von der die Schweizer Industrie unmittelbar betroffen ist. Sie leitet eine Desindustrialisierung ein. Die künstliche Verknappung des Erdöls sensibilisiert zudem für Fragen nach der Endlichkeit von Ressourcen auf dem Planeten. Umweltproteste erhalten bald eine gesellschaftskritische Dimension. Erklären lässt sich dies vor dem Hintergrund eines Wertewandels, der in den 1970er-Jahren um sich greift und Individualismus und Selbstentfaltung betont. Historiker sprechen von einer «kulturellen Revolution», die sich weltweit beobachten lässt. Hinterfragt werden tradierte Familienordnungen und Geschlechterrollen sowie gesellschaftliche Strukturen generell. 1970 erhalten die Frauen im Kanton Luzern und 1971 in der Schweiz das Stimm- und Wahlrecht. Ebenso setzt ein Bildungsboom ein, der sich im Verlaufe der nachfolgenden Jahrzehnte akzentuiert. 1977 wird in Horw der Gebäudekomplex der Hoch-schule Luzern – Technik & Architektur errichtet. Die Desindustrialisierung bekommt die Gemeinde insofern weniger zu spüren, als die Industrie nicht so zahlreich vertreten ist. Dennoch gibt es Industriebetriebe, wie beispielsweise die 1954 gegründete Dytan AG. Diese zählt lange Zeit zu den grössten Arbeitgebern der Gemeinde. Sand + Kies AG wie auch die Ziegelei produzieren für ein reges Bauwesen. Bereiche wie die Gastrono­mie und die Hotellerie zusammen mit anderen Dienstleistungsbetrieben erhöhen ihren Stellenwert seit den Nachkriegsjahren nicht zuletzt, weil die Haushalte immer mehr Funktionen (von der Herstellung von Kleidung bis hin zum Essen) auslagern.

In Zeiten raschen Wandels werden insbesondere Verluste wahrgenommen und Identitäten hinterfragt. Die Modernisierungsfolgen führen bereits zu Beginn der 1970er-Jahre zu einem umfassenden Umweltschutzdenken. Begriffe wie «Ökologie» und «Ökosystem» werden in den 1980er-Jahren populär. In Horw stellt sich die Frage der Entwicklung auf der Halbinsel besonders virulent.

Um- und Aufbruch: 1990 bis Gegenwart

Mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991 endet nicht nur die Epoche des Kalten Krieges, auch die Nachkriegszeit findet ein von kaum jemandem erwartetes Ende. In diesem Jahrzehnt beginnt die Verbreitung des Internets, das von vielen Experten als eine der bedeutendsten Veränderungen des Informationswesens seit der Erfindung des Buchdrucks eingestuft wird. Mit dem Zusammenbruch der bipolaren Weltordnung dynamisiert sich die Globalisierung. Sie vermindert die Steuerungsfähigkeit des Staates und dessen Einflussnahmemöglichkeit auf global aktive Unternehmen. Beispielhaft lässt sich dies anhand der Finanzmärkte und des deregulierten Bankensystems veranschaulichen. Das sich nach dem Kalten Krieg zu einer Wirtschafts- und Währungsunion formierende Europa führt zu einer Politisierung des Integrationsprozesses. In der Schweiz steht man dem Prozess, wie schon während des Kalten Krieges, distanziert gegenüber. Das Land ist jedoch 1991 vor einer Wegmarke wie 1919, was eine Neuformulierung seiner Aussen- und Neutralitätspolitik notwendig macht. Günstige ökonomische Rahmenbedingungen entfallen und müssen neu ausgehandelt werden. Moralisch unter Druck gerät das Land in der Weltöffentlichkeit aufgrund des Umgangs von Schweizer Banken mit Vermögen von Opfern des Holocaust. Ökonomisch zeigen sich in der Schweiz in den 1990er-Jahren grössere Turbulenzen, und erst Mitte des ersten Jahrzehnts im neuen Jahrtausend gewinnt die Wirtschaft an Schwung. Dies führt in den nachfolgenden Jahrzehnten zu einer starken Einwanderung in die Schweiz, ein Faktor, der sich auch in der Siedlungsentwicklung widerspiegelt. Die vergangenen beiden Dekaden sind Boomjahre, die in vielem an die Zeit der Hochkonjunktur während des Kalten Krieges erinnern. Für viele Ökonomen zählt die Schweiz zu den Gewinnern in einer globalisierten Welt trotz gesellschaftlicher Spannungen und Blockaden. Das Ende des Kalten Krieges bringt jedoch nicht, wie von vielen er-hofft, eine geordnete, demokratischere und gerechtere Ordnung hervor. Die Welt ist komplexer geworden seit dem Ende des Kalten Krieges. Auch die Finanzkrise von 2008 zieht Spuren bis in die Gegenwart. All diese nationalen und internationalen Ereignisse der letzten rund 70 Jahre haben Horw geprägt. Aus dem Bauerndorf wurde in wenigen Jahrzehn-ten eine städtisch geprägte Agglomerationsgemeinde mit einer markant veränderten Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur. Die Welt wird sich weiter wandeln. Die Entwicklung geht in rasantem Tempo weiter. Damit wird sich auch die Identität von Horw laufend verändern, wie dies schon immer der Fall war.

Markus Furrer, Professor für Geschichte und Geschichtsdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Luzern